04 Juni 2015

Natur pur – Am Ursprung eines Stromes (Teil 6)

Für mich, eines der Highlights auf diesem Trip „Vom Riesengebirge durch den Süden Polens“. Die Winterwanderung zur Elbequelle. Ein kleines Abenteuer. Wie sich im Nachhinein herausstellt, sollte ich Recht behalten. Nur, das Ausmaß war mir nicht bewusst.

Eigentlich hatten wir uns das ganz einfach vorgestellt. Knappe 6km von Spindlermühle aus. Die Route haben wir uns via Google Maps und Google Earth vorher schon zurecht gelegt. Alles easy, dachten wir.
Der Tag ist angebrochen, ausgiebig gefrühstückt, das Proviant für unterwegs ist fertig gepackt.



Irgendwie entschließen wir uns doch noch das Touristeninformationszentrum im Ort aufzusuchen. Ein Glücksfall, denn unsere Route ändert sich gravierend. Die Mitarbeiter geben uns den Rat, die Elbequelle von der Spindlerbaude aus anzusteuern. Knappe 10km, 9,5km sind es exakt. Aber leichtes Terrain, nur geradeaus. Meine Strecke, sei extrem schwierig, es gehe dauerhaft steil bergauf. Wir schauen uns kurz an. Unser Entschluss steht.

Die Spindlerbaude ist nicht in Spindlermühle gelegen. Nein nein, zehn Kilometer entfernt. Auf 1200m über dem Meeresspiegel. Selbst mit dem Auto hinauffahren wollen wir nicht, der Plan war den Weg von der Elbequelle direkt zurück nach Spindlermühle zu nehmen. Glücklicherweise fuhr 20 Minuten später ein Bus hinauf zur Spindlerbaude. 20 tschechische Kronen pro Nase zahlen wir. Stetig geht es bergan, Serpentine um Serpentine, teilweise über kleine und schmale Steinbrücken. Der Asphalt ist mit einer leichten Schneeschicht überzogen. Mit einem Affenzahn steuert der Fahrer mittleren Alters den Bus, manchmal mit einem Driften in der Kurve. Da wird einem fast schwummrig. Das Klima wird immer eisiger und frostiger. Die Äste und Zweige der Nadelbäume sind gefroren, ein winziger Vorgeschmack auf das, was kommt.

Nach einer Viertelstunde sind wir an der Spindlerbaude angelangt. Wir sind direkt an der tschechisch-polnischen Staatsgrenze. Heute ist es ein modernes Vier-Sterne-Hotel mit Restaurant, das wohl keine Wünsche übrig lässt. Das lässt auch die Natur nicht. Eine wahre Winterwunderlandschaft. Fast eine Eislandschaft. Bei Minus fünf Grad. Passende Kleidung schafft Abhilfe.

Nur welcher ist der richtige Weg. Die Schilder sind allesamt nicht lesbar, von dicken einer Eisschicht überzogen. Hilft nichts, wir fragen an der Rezeption der Spindlerbaude nach. Die schauen uns entgeistert an. Beinahe mit Unverständnis. „Immer geradeaus müssen Sie“, sagt die freundliche Frau. Die Bemerkung, dass der Weg sehr schwer und steinig wäre, kann sie sich nicht verkneifen. Juckt uns aber nicht.

Mit Tatendrang ziehen wir los. Nicht einmal sicher, ob wir die 10km überhaupt schaffen. Die Natur flasht uns, sie beflügelt uns. Einzigartig.

Den ersten Kilometer geht es auf breitem Weg geradeaus. Keine Steigung. Nichts. Aber wie gesagt, nur zu Beginn. Es ist der Kammweg des Riesengebirges. Er verbindet Harrachov und Mala Upa von Ost nach West. Ziemlich schnell endet das Flache. Das bedeutet Anstieg. Der führt zur Petrovkou-Baude, Ein Jeep von der Nationalparkverwaltung kommt uns entgegen, wir machen Platz. Sonst begegnet uns keine Menschenseele. Jenseit jeglicher Zivilisation. Langsam arbeiten wir uns voran, Schritt für Schritt. Ja nicht überpacen. Kräfte gut einteilen, lautet die Devise. Von der steinernden Baude, die Türen sind natürlich verschlossen, haben wir einen phänomenalen Blick über das Riesengebirge, zur Ausgangsstation Spindlerbaude und der zurückgelegten Strecke. Selbst de Schneekoppe ist bereits mit ihren Konturen zu erbicken. Noch versteckt sich die Sonne hinter den Wolken und dem leichten Nebel.




Nach wie vor sind wir unsicher, ob wir auf dem richtigen Pfad der Tugend sind. Die zwischenzeitlichen Hinweisschilder haben nie eine Elbequelle oder die in der Nähe liegende Elbfallbaude ausgewiesen. Gar nichts. Jetzt stehen wir ein wenig ratlos vor einer Kreuzung. Links den breiten Verkehrsweg folgen, geradeaus den schmalen Pfad folgen oder rechterhand die Abbiegung nehmen? Links. Das war der falsche. Shit happens. Nach 300m kommen wir an der Moravska Baude heraus. Ein Gasthaus mitten in der Natur, fernab vom Schuss. Das Licht brennt, sie wird bewirtschaftet. Unser Glück. Wir fragen nach dem Weg, können sogar noch eine Karte kaufen. Das haben wir gebraucht.
Mit großer Abenteuerlust sind wir losgezogen. Vielleicht mit einem Schuss Naivität. Jetzt sind wir eines besseren belehrt, allerdings froh, dass wir nicht vorzeitig die Segeln streichen müssen.

Wir müssen zur Kreuzung zurück, also den Berg hinauf und dann links abbiegen. Der mittlere Weg ist der richtige. Der blauen Kennzeichnung müssen wir folgen. Die Bradlerova Baude ist unser nächstes Zwischenziel. 2,5km sind es dorthin. Aus dem breiten, ebenen Untergrund wird ein schmaler und steiniger. Zwei Personen können unmöglich nebeneinander laufen. So stampfen wir hintereinander im Gänsemarsch. Von einem Felsplateau haben wir einen Blick über einen Teil des Riesengebirges. Die Bradlerova Baude liegt direkt vor uns im Tal. Die Strecke zu ihr führt uns bergab. Uns erschleicht eine Ahnung, dass wir auf der anderen Seite wieder hinauf müssen. Den Gedanken verdrängen wir. Zwanzig Minuten später sind wir an der Hütte. Im Moment ist sie verlassen. Das Gasthaus ist nicht in Betrieb, lohnt sich scheinbar nicht in den Wintermonaten.
Wir wundern uns, immer noch ist nichts von einer Pramen Labe, dem tschechischen Name der Elbequelle. Das so ein frequentiertes Wanderziel nicht ausgeschildert ist. Sehr komisch.

Was uns vor einiger Zeit bereits durch den Kopf schoss, wird nun Gewissheit. Es geht bergauf. Stetig. Die nächsten drei bis vier Kilometer. Langsam haben wir Halbzeit von der Halbzeit, die Kräfte schwinden, der Tatendrang und die Motivation bleibt.


Zwei Kilometer weiter, noch immer auf dem blauen Weg, treffen wir auf die verschlossene Martinovska Bouda. Nur der Schneepflug steht vor der Tür. Mittlerweile ist sogar die Sonne vollständig herausgekommen. Ein Traum. Besser kann es nicht sein, inmitten dieser bezaubernden Natur. Das gibt noch einmal Schwung für die letzten Kilometer. Endlich ist die Elbfallbaude auf den Schilder ausgewiesen, 2,5 km nur noch. Von dort sind es nur noch wenige hundert Meter bis zur offiziellen Quelle. Ein Energieschub für Körper und Geist. Kräfte werden freigesetzt. Auch wenn die wenige Meter weiter erneut strapaziös werden. Es geht bergan, auf schmalen Weg am Berghang entlang.

Erst jetzt fällt uns diese Ruhe auf. Man hört nichts, fast wie in einem Vakuum. Kein Luftzug, kein Rascheln, kein Vogelgezwitscher, keine Menschenseele. Nichts. Kaum zu glauben. Nur wir. Für uns fast schon unheimlich, aber unglaublich angenehm und vereinnahmend. Man spürt förmlich diese innerliche Entspannung. Nichts interessiert außer das eigene Ich. Selbstfindung.


Die Anstrengung wächst, noch immer Anstieg. Die Kräfte schwinden. Ein fitter Wanderer, allein unterwegs, kommt uns schnellen Schrittes entgegen. Der einzige heute.
Das Riesengebirge ist die Heimat Rübezahls. Um den Berggeist ranken sich eine Vielzahl von Sagen, Legenden und Märchen. Er erscheint den Menschen in verschiedener Gestalt. Als Bergmann, als Mönch, Handwerker, in Tiergestalt oder als natürlicher Gegenstand. Der launische Geist bestimmt über das Wetter im Gebirge. Für Regen, Blitz und Donner ist er verantwortlich. Gegenüber Menschen soll er meist freundlich sein, hilft Armen. Wanderer wiederum leitet er in die Irre. Eine gespaltene Persönlichkeit. Seine Geschichten wurden niedergeschrieben und überliefert. Teilweise geschah das bereits im 16. Jahrhundert. Viele Sammlungen jener Sagen und Legenden sind im Verlauf der Zeit erschienen, viele umgewandelt worden. Manchmal ist das wie „Stille Post“.


Als wir es geschafft haben sehen wir sie, die Elbfallbaude. Wieder einmal müssen wir Höhenmeter bewältigen, diesmal nach unten. Vorher kommt der Elbfall. Ein mickriger Wasserfall zu dieser Jahreszeit. Wo sonst die Wassermassen 40 Meter in die Tiefe stürzen, ist heute nicht allzu viel davon zu sehen. Nur ein Rinnsal stürzt in die Tiefe.

Gleichzeitig stehen wir vor der bereits erwähnten Elbfallbaude. Dieser mehrgeschössige Betonklotz aus Zeiten des Sozialismus, der so gar nicht in das Landschaftsbild hineinpassen will. 1975 wurde das Gebäude nach 6 jähriger Bauzeit eröffnet. Die vorherigen Hütte war einem Brand zum Opfer gefallen. Die Bedürfnisse der Reisenden waren von nun an befriedigt. Massentourismus eben. Er erfreute sich großer Beliebtheit. Die Hässlichkeit störte niemanden. Doch das war einmal, der Glanz verblasste. Heute würde man sie am liebsten schnellstmöglich weg haben. Eine kleine Baude soll es sein. Doch so einfach geht das nicht. Aufbau, Abriss, Neubau. Ein aufgabenreiche Reihenfolge. Millionen von Kronen muss man dafür in die Hand nehmen. Ein Mammutprojekt. Kann man nur viel Glück wünschen. Zu dieser Jahreszeit ist er verschlossen. Kein Menschenleben darin zu sehen, kein Licht brennt.

Ohne Pause starten wir in das allerletzte Teilstück auf dem Weg zur Elbequelle. Wie soll es anders sein, bergan. Einen Kilometer nur noch. Nur ist gut. Auf den ersten Blick ein Klacks. Nach mittlerweile über 8km Wanderung. Falsch gedacht. Es zieht sich wie Kaugummi. Meter um Meter. Ein Kampf. Hinzu kommt das Wetter. Vorbei mit eitel Sonnenschein. Der Nebel ist aufgekommen, bedeckt den Kamm des Riesengebirges. Es pfeift, es windet, es schneit in feinsten Rieseln. Genau ins Gesicht. Der Weg ist von den Schneeverwehungen schwer begehbar, man sinkt teilweise ein. Kräftezehrend.

Nach einer halben Ewigkeit erreichen wir sie, das Ziel unserer Wandertour durch das Riesengebirge. In 1346m Höhe. Die Elbequelle, unspektakulär. Ein kleiner betonierter Brunnen, im Durchmesser knapp ein Meter, symbolisiert den Ursprung eines der wichtigsten Ströme Europas. Von ihm bahnt sich, kaum sichtbar, ein kleines Rinnsal in südlicher Richtung allmählich hinab ins Tal. An einer künstlich geschaffenen Gesteinsmauer sind 28 Wappen der Elbe-Städte. Jene, die der Fluss in seinem Verlauf unterwegs durchfließt oder passiert. Teilweise kann man sie durch das Eis nur schwer lesen. Wir rubbeln sie frei, nicht alle natürlich. Das würde zu lange dauern. Cuxhaven, Dresden, Bad Schandau, Hradec Kralove, Wittenberg , Hamburg oder Magdeburg, Pardubice, Spindlermühle. Nur eine kleine Aufzählung. Kurze Pause, Zeit für eine rasche Stärkung.





Mittlerweile ist die Zeit weit vorangeschritten, wir haben es bereits 14.45 Uhr. In eineinhalb Stunden wird es dunkel. Bis dahin wollen, sollten und müssten wir in Spindlermühle sein. Nur welchen Weg einschlagen? Zurück zur Elbfallbaude und dann hinab direkt nach Spindlermühle oder den Pfad über Horni Mesecky. Wir entscheiden uns für das zweite. Noch schnell Bilder knipsen, ein wenig Proviant zu uns nehmen und los geht es. Geradeaus geht es dahin, für einige hundert Meter, ehe wir kaum unseren Augen trauen können. Die Route führt uns, na klar, bergan. Langsam beschleicht uns ein ungutes Gefühl, ein Hauch von Zweifeln macht sich in uns breit, gerade mit dem Blick auf die Zeit. Mehrmals schauen wir auf die Karte, orientieren uns und kommen zum Entschluss richtig zu sein. Hilft nichts, weitergehen. Der Nebel macht es nicht angenehmer. Im Gegenteil, er wird schlimmer. Die Schutzhütten am Rande des breiten Kammweges scheinen schon manch Übernachtungsgast willkommen geheißen zu haben, zumindest im Sommer. Im Winter ist das lebensgefährlich ohne passende Ausrüstung. Doch Besserung ist in Sicht.



Wir biegen rechts ab.Von nun an geht es schmal und steinig steil nach unten. Glücksgefühl macht sich breit. Wir sind erschöpft, haben aber noch gute 6km zu unserem Ausgangspunkt heute morgen zurückzulegen. Dennoch ein Lichtblick. Schnell sind wir jetzt. Joggen fast. Trotzdem melden sich die Füße, schmerzen aufgrund der Belastung. Wir blicken rechts tief ins Tal. Wieder dieses Bilderbuchpanorama, das entschädigt.

Wir erreichen Horni Misecky. Direkt an der Lilemincka-Baude kommen wir heraus. Eine kleine Siedlung, ein Miniort, mehr ist Horni Misecki. Offiziell gehört es zu Spindlermühle. Ein Urlaubszentrum in ruhiger Lage. Aus einiger Entfernung konnten wir bereits die mit Kunstschnee beschneiten Skipisten sehen. Ein paar Dutzend rutschen die flachen Hänge herunter. Für Anfänger und Kinder sicherlich ideal, für Fortgeschrittener eher fad.
Einer führt direkt nach Spindlermühle hinunter, der Lift bringt sie dann wieder herauf. In Betrieb ist der nicht, zu wenig Schnee. Sonst hätten wir den nutzen können, es wäre eine Erleichterung gewesen. So müssen wir quer über die Skipiste und noch die restlichen drei Kilometer hinter uns bringen. Der Weg wird matschiger, Schnee ist kaum vorhanden in dieser „Tiefe“. Die Füße, die Beine, der gesamte Körper schmerzen von der Anstrengung. Der Kopf ist ausgeschaltet, die Beine funktionieren automatisch. Mittlerweile ist es dunkel, nur noch wenige hundert Meter. Die wollen nicht vergehen. Ungefähr 5 Stunden haben wir für den Marsch gebraucht. Überglücklich erreichen wir das Auto. Noch einmal erinnern wir uns, wie wir heute Morgen in den Bus zur Spindlerbaude gestiegen sind. Die Anstrengungen des Tages sind im Kopf fast vergessen, nur der Körper erinnert uns. Was für ein Erlebnis-unbeschreiblich-unvergesslich!

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